Auszug zum Thema : Erziehung als “Austausch von Kompetenzen“
Wenn es so ist, dass das Umgehen mit analogen Botschaften und das Deuten komplexer Informationsangebote ins Alltagsrepertoire von Kindern und Jugendlichen gehört, dann haben wir ein Phänomen, das wir als “retroaktive Sozialisation“ bezeichnen. Heute ist es tatsächlich nicht mehr so, dass die Jüngeren nur von den Älteren lernen, sondern umgekehrt: vieles lernen die Älteren auch von den Jüngeren. Denken wir an Freizeitstile, an die ganze Welt der Unterhaltung, des Urlaubs, auch an die Medien: hier sind es die Jungen, die Bescheid wissen. Erwachsene, auch Lehrer, sind dagegen häufig verunsichert und weichen den Wahrnehmungs-Innovationen eher aus. Jeder weiß, wie gerne Kinder fernsehen, wie schnell sie eine Tastatur (vom Gameboy bis zum Computer) durch Versuchs- und Irrtum-Verhalten beherrschen. Kinder und Jugendliche sind heute “Trendsetter“. Da heißt es also pädagogisch umdenken. Wir können als Erziehende Kinder nicht umfassend “kontrollieren“ (dies setzt Besserwissen und ein recht festgefügtes Weltbild voraus, das Teilhabe erst stufenweise zulässt). An diese Stelle tritt meines Erachtens eine neue Beziehungs-Formation, die ich “Austausch von Kompetenzen“ nenne. Englisch, höhere Mathematik, die Kochrezepte der Großmutter, Geheimnisse der Biologie – vieles wissen wir Älteren und bringen es den Jüngeren bei. Dies beginnt ja schon mit den traditionellen Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen und richtig sprechen können. Aber die Jüngeren bringen auch uns etwas bei; neue Tanzschritte ohne Tanzschule, die Welt der Pop- und Rockmusik, das Genre Horror- oder Actionfilm, die Spielzeugangebote der Kaufhäuser, angemessene Mode und Kleidung – es gibt ein riesiges Repertoire hoher kindlicher Kompetenz. Damit habe ich “Erziehung“ einen neuen Sinn gegeben; sie besteht nicht mehr in dem linearen Gefälle zwischen Erziehendem und zu Erziehendem, sondern in einer Kreisbewegung offener Kommunikation, in der wir unsere jeweiligen Kompetenzen freimütig und bereitwillig austauschen und insofern tatsächlich Herrschaft abgebaut oder doch eingeschränkt ist. Mit neuen Wahrnehmungsweisen umgehen, die neuen Kommunikationstechniken angemessen bedienen können, dies ist eine Lernaufgabe, die Kindern und Erwachsenen wie ihren Eltern und LehrerInnen in gleicher Weise gestellt ist.
Wir sehen, die Welt hat sich gewandelt und das pädagogische Verhältnis auch. Es gilt nicht mehr “mulier taceat in ecclesia“, es gilt auch nicht mehr “Kinder dürfen nur reden, wenn sich das Handtuch rührt“ (so noch bei uns zu Hause, als ich ein kleines Kind war), und es gilt auch nicht mehr “Lehrer fragen, Kinder antworten“. Wir leben in einer Informationsgesellschaft und dies meint pädagogisch: Wir sind angewiesen auf gegenseitigen Austausch auf der Grundlage gegenseitigen Sich-Anerkennens. Die alten und neuen Medien haben all dies mitbewirkt, und trotz aller Zweifel und Bedenken: PädagogInnen und Kinder haben die Chance zu einer neuen Gemeinsamkeit in einem Lernumfeld, das nicht mehr eine abgeschottete pädagogische Provinz darstellt, sondern zur kommunikativen Weltgestaltung auffordert.